Dorfleben im Winter

die Sonne scheint, auf der Strasse ist jedoch noch vereist

Auf dem Stuhl stehend, langt sie nach der flachen Blechschachtel, die auf dem Holzschrank, hinten gegen die Wand, versteckt ist. Gvantsa ist klein und kräftig gebaut, über den schwarzen dicken Winterstrümpfen trägt sie einen dunklen Wolljupe. Den Kopf hatte sie mit einem farbigen Wollschal umwickelt, als sie mich vor kurzer Zeit in der Kälte durchs Gartentor einliess. Jetzt stehen ihr, ohne Schal, die dunkelbraun gefärbten Haare wie eine Gugelhopfform um den Kopf. Als sie in der Schachtel zu nesteln beginnt, schau ich zurück aufs breite Bett vor mir. Ich sitze auf einer schmalen Sofabank, neben dunkelbraun marmorierter Kommode mit altem Fernseher drauf. Als ich wieder in Gvantsas Richtung schaue, seh ich gerade noch, wie sie vom Stuhl rückwärts aufs schmale Bett hinter sich fällt. Ohne einen Laut von sich zu geben, federt ihr Körper von der roten Häkeldecke, die über einem dicken Duvet liegt, zurück, und den zweiten weichen Aufprall nutzt die 79-Jährige, um mit Schwung seitlich vom Bett wieder auf die Füsse zu kommen. Perfekt gestanden. Ohne ihrer Akrobatik Beachtung zu schenken, kommt sie durchs Zimmer auf mich zu: “Was ist das?” fragt sie mich, während sie mir etwas in die Hand gibt. “Gestern, als mein Neffe ging, lagen auf dem Sessel fünf Stück davon.” “Eine hundert Dollar Note.” In der Mitte steht, leicht glänzend in Rosa, Happy Birthday. Das Papier lässt sich widerstandslos einreissen. “Die ist nicht echt. Aber zeig sie einer Bank, wenn Du das nächste Mal in der Stadt bist.” 

Gvantsa lernte ich auf dem sonntäglichen Dorfmarkt kennen. Im Winter bietet sie Hagebutten und Kaki aus ihrem Garten feil und Sanddorn vom Wald, in viel Zucker eingekocht. Ihre Auslage am Boden nimmt sich ärmlich aus neben den grossen Mengen Mandarinen, Orangen, Kartoffeln und Kohl der andern. Meist sitzt sie im Rechteck der zurückgeschobenen Seitentür eines Lieferwagens, der hinter ihrem Standplatz an der Mauer parkiert ist. Im Frühling stehen vor ihr schwarze niedere Plastikkübel, gefüllt mit leuchtend gelben, violett und weissen Blumen; ihre Leidenschaft. 

Als wir auf niedrigen Schemeln am ebenso niedrigen Tischlein an der Ecke ihres grossen Bettes bei süssem türkischen Kaffee sitzen, lässt sie mich wissen: “Für dreihundert Lari hab ich Veilchensetzlinge gekauft, fünf Kapiki pro Bund, das war sehr günstig!” ihre dunkelbraunen Augen schauen lebhaft und erwartungsvoll an mir vorbei ins Weite. Mit einem geschäftstüchtigen Lächeln fährt sie fort: “Ich werde die Veilchen im Frühling zu kleinen satten Sträussen binden und sie in Temka verkaufen,” ein Tifliser Aussenquartier, “im Nu werden die weg sein!” 
Als ich nach einer Weile ihr Haus durch den Garten verlasse, ist der Strassenhund nicht mehr da, der mich vorher begleitete.

2 Gedanken zu “Dorfleben im Winter

  1. Du hast Svantska so gut beschrieben ich habe gleich ein Foto von Ihr genommen. Ich mage deine Beschreibungen. Liebe Grüsse.

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