Unterwegs

Als ich im Flughafen Tiflis beim Gate sass und in die Halle blickte, definierte ich diesen Raum als puren Menschenraum. Hier bewegt sich der Mensch, und nur der Mensch, in seinen Erfindungen. Das Bauwerk, die Inneneinrichtung, die Produktangebote, die künstlichen Vögel, die vor dem Fenster warten. 

Die letzten Wochen vor meiner Abreise hatte ich in meinem Dorf intensive Erlebnisse mit Strassenhunden. Ich nahm, als es langsam Winter wurde, Kontakt mit einem Hund auf, den ich lange ignoriert hatte. Er war sehr mager, verfilzte Fellknoten hingen ihm von den Ohren, er hatte offene Wunden an Beinen und Leib. Vor der Tür des kleinen Supermarktes bei der Dorfausfahrt stand er oft mit bittenden Augen. Ich begann ihn zu füttern und weitere tierische Bekanntschaften ergaben sich. Zu meinem bisschen Erfahrung mit frei lebenden Hunden gesellten sich Ereignisse, die mir tief unter die Haut gingen, sehr schöne, aber auch solche, die mich zitternd und ohne Antwort zurück liessen.

In Basel, als ich um den Bahnhof spaziere, überkommt mich ein ähnlicher Eindruck wie am Tifliser Flughafen. Menschenwerk. Geteerte Strassen, Geleise, Trottoirs, Häusermauern, Autos, Fussgängerstreifen – ein Hund an der Leine. Auch hier gibt es Hunde. Wie folgsam sie sind. Gehen im Tempo des Menschen, halten wenn er hält, kein Ziehen an der Leine.
Als ich im Wald bei meinem Heimatdorf, Biel-Benken BL, gegen meine Gewohnheit jogge, nehmen die Tiere, auch ohne Leine, kaum Notiz von mir; sie sind Sprösslinge vieler Generationen Leinen-Leben. Wenn ich kann, nehme ich Kontakt mit ihnen auf. Wie weich ihr Fell ist. Samten wie frisch gewaschenes Kinderhaar. 

In den letzten Jahren habe ich aus der Schweiz viel von Biodiversität und Artenvielfalt gelesen. Darüber hör ich in Georgien so gut wie nichts. In Sommerwiesen schrecken dort bei jedem Schritt mehrere Grashüpfer in die Luft; Blumen gibts zu Hauf in den Wiesen über dem Dorf. Als ich nun aus dem heimatlichen Wald komme, breitet sich vor mir eine kleine Hochebene aus mit viel Grün, dunklen knorrigen Hochstammbäumen und wenig Spalierbaumanlagen. Das Gras, vom Wind in Wellen gebogen, leuchtet silbrig hell oder dunkelgrün matt. Es gibt Felder mit nur Gras und Felder mit Gras und Klee; Felder mit Grün und Blumen gibt es nicht.

Erinnerungen

Die sakralen Hallen von Coop und Migros, der pensionierte Zürcher Uniprofessor, wie er Wacho während der Abschiedsumarmung übers Gesicht streicht, der Pfuusbus von Pfarrer Sieber, Kaffee getrunken in der Sonne vor dem Odeon; 1 Meter und dann kommt ein Zaun aus wacklig eingehängten rotweissen schmalen Baustellenlatten. Gleisarbeiten. Zwischen uns und dem Zaun spaziert eine neugierig blinzelnd kroatischsprechende Touristengruppe vorbei.

In der Stadt haben sie sich überhaupt nicht verändert, die grossen Einkaufszenter. In der Peripherie jedoch, im unteren Baselbiet, haben sie mich nachhaltiger beeindruckt als der Besuch des erneuerten Zürcher Kunsthauses. Stolze ruhige Flächen mit grossen freistehenden Vitrinen, elegante Regalzonen, dezentes Neonlicht. Vor mir stosse ich einen Gitterwagen, gross wie ein Schiff, es hatte keine anderen. Die Auswahl an Joghurts hat sich nochmal um ein Drittel vergrössert. Die Gutelaune Musik ist geblieben. Was sich im Wagen angesammelt hat, dürfen wir selber einlesen, wohl fürs nachhaltige Erlebnis, ein immersives, nicht wahr, und dann tritt plötzlich eine Frau mit adrettem Blüsli hinter meinem Rücken hervor und will einen Sicherheitscheck machen. Für Wacho ist klar “Sie kam, weil ich dabei stand”, ich meine jedoch “Nein, weil ich ihr die Sicht verdeckte”, denn ich verstand gar nicht, für was die lächelnde Frau da stand, als wir in die Kassen-Lounge kamen. Sicherlich ging es jedoch um den Funken Authentizität, den das Intermezzo vermitteln sollte. Wie gut das alles eingefädelt ist! 

“Am Feuer, als Du gestern unter den anderen Leuten im rauchigen Dunkel standest, wartend, bis der Rand deiner dünnen Holzscheibe glühend wird, und als Du die kleine Feuersonne dann in den Himmel schmettertest, spürte ich Dich als eine von dieser Scholle. Aber jetzt”, Wacho und ich sitzen auf dem Sofa im Wohnzimmer meiner Mutter, “Jetzt spüre ich, dass Du eine von uns bist. Du gehörst zu Georgien.”
Die verschiedenen Welten, in denen ich lebe, spalten mich nicht. Ich bin froh um die Einfachheit hier in Georgien, und in der Schweiz geboren und aufgewachsen zu sein, betrachte ich als Geschenk. Früher verstand ich nicht warum gerade für mich, dieses Geschenk. Nun, es ist einfach so.

With Love, from Bern!