Westgeorgien 4

„Wo ist der Chef?“ Frag ich zur Tür rein, die mit „Staff only“ angeschrieben ist.
Nachdem ich auf dem Rücksitz meines Opel Astras die völlig durchnässten Kleider gegen trockene getauscht habe, muss ich etwas klären. Wo zum Teufel ist der Rundweg, der auf der Übersichtstafel des Naturparks Sataplia in strahlendem Blau eingezeichnet ist und ich heute, im zweiten Anlauf, ich war schon vorgestern hier, nicht gefunden habe? „Der Chef ist draussen, im blauen T-shirt“, tönt es aus dem Mitarbeiterraum.
Der junge Mann mit kurzem dunklen Haar und sportlicher Postur ist zuerst über meine Schilderung belustigt, lädt mich dann aber in den Personalraum ein, um mir den Rundweg auf der Karte zu zeigen. Im Computer, mit vielen zusätzlichen Informationen zum Terrain, kann ich den Wanderweg sehen. Ich lasse mich nicht davon abbringen, diesem Weg im Wald nicht begegnet zu sein. Wir werden uns nicht einig und wir fahren, obwohl ich müde bin und er in Büroturnschuhen, mit seinem kleinen weissen Auto den Besucherweg hoch zum Anfang des Rundwanderwegs. Zum Glück regnet es nur noch leicht.
Ja, eine Tafel auf Georgisch, die unter anderem zeigt, man solle den Wanderzeichen weiss-gelb-weiss auf den Baumstämmen folgen, ist da. Die englische Version auf der Rückseite sehe ich erst jetzt. Bald kommen wir an einer Stelle mit weiteren Infotafeln vorbei: „Der kleine Rundweg von der Übersichtstafel hat früher hier begonnen”, sagt Goga, der Parkdirektor, “Es gibt ihn nicht mehr.” Ein Baumstamm versperrt den Weg, wo früher die Abzweigung gewesen sein muss. Goga hält mir zwei Ausweise hin, der eine zeichnet ihn als Alpinisten aus, der andere als Höhlentaucher. „Siehst Du die Kiesel am Boden? Er zeigt auf den gepflegten Weg, „Die sind wichtig, der ganze Rundweg ist damit ausgelegt.“
Wir kommen zur Verzweigung, wo in beide Richtungen zwei neue gelbe Wanderschilder zeigen. Beide Wege probierte ich aus, beide führten mich ausserhalb des geschützten Sataplia-Waldes. „Ja, diese Wege sind neu“, sagt er, und nach einer kurzen Pause: „Hast Du gesehen, beim einen hat es am Schluss eine schön gemachte Picknickstelle und ein Klo!“ „Nein, das sah ich nicht.“ 

Sehr schöner subtropischer Buchenwald im Naturpark Sataplia, Georgien

Wir nehmen den rechten Abzweiger, weil Kiesweg, und ja, immer mal wieder sind auf unserem Weg weiss-gelb-weisse Zeichen auf Bäume gemalt. Nach einer Weile steht wieder eine neue Eisenstange am Weg mit gelber Wandertafel, sie zeigt nach links.
Goga zeigt auf den Boden: „Schau auf den Kies!“ Der Kiesweg geht nach rechts. „Das ist der Rundweg, er kommt oberhalb des Hotels raus, dreieinhalb Kilometer, es dauert etwa zwei Stunden!” Schwungvoll nimmt er mich ein paar Meter auf den Weg mit und zeigt dann auf die weiss-gelb-weisse Markierung an einem Baum: “Hier geht’s lang!” Ich versuche dem Parkdirektor klar zu machen, dass sich mein Hirn zwei Stunden vorher, ohne in Verlegenheit zu kommen, für Links entschied, für die neue gelbe Tafel, die mir schon vorher auf dem Weg begegnete.
“Goga”, sage ich, “Beim einen Weg, der mich zum Park hinaus führte, war am Ende ein Wanderschild, das mir verhiess, in 54 km könne ich die Tropfsteinhöhle Prometheus erreichen. Weisst Du welche Verantwortung Du trägst, wenn Terrain-Unkundige, Touristen, in Deinen Wald gehen?”

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Wandern in Georgien. Als ich vor rund acht Jahren nach Georgien kam, waren ausgeschilderte Wanderwege eine Seltenheit. Mittlerweile bietet fast jeder National- oder Naturpark mehr oder weniger ausgebaute Wanderrouten an. Im Naturpark Sataplia gibt es ein grosses Schild, es begegnet einem immer wieder, das den Hauptweg aufzeigt und was der Park sonst noch zu bieten hat. Ehrlich gesagt, auf den Kaffee im Restaurant gleich nach der kleinen Tropfsteinhöhle freute ich mich schon von Beginn weg. Ein Hotel gibt es auch, das wusste ich gar nicht. Nach der Tropfsteinhöhle hocke ich mich in den Schatten auf den obersten Tritt der Treppe, die zum Restaurant führt. Führte. Führt, sie ist immer noch da, das Restaurant jedoch liegt im Koma; alles ist dort, Tische, Stühle, ich spüre förmlich, wie Menschen hin- und herwuseln, Kinder rufen nach Glacé, Frittgeruch steigt mir in die Nase – eingeschlafen. Sie sind über Salaten, Wein und Glacé eingeschlafen. Ein Sonnenstoren hat sich verfangen und hängt schief zwischen weisslich angelaufen Fenstergläsern. Hinter dem Restaurant seh ich, weiter oben im Wald, ein zweites Holzgebäude. Es sind deren gleich zwei, von erlesenem Geschmack, typisch Georgien, denke ich, die haben Design einfach im Blut, sehr schön, wie das Hotel in die Umgebung eingebaut wurde. Eine Kopfsteinpflasterstrasse führt zu ihm. Die Feuchtigkeit des subtropischen Klimas setzt ihm innen jedoch arg zu, wie ich durch die Scheiben schauend feststellen kann. Keine Ahnung, ob das noch reparabel ist. Vom Vorhof des einstigen Hotels sehe ich zwei Wandertafeln, die an verschiedenen Stellen in den Wald führen, nach Inspektion ist unklar, wohin sie mich führen würden. Auch veraltet, denke ich, und gehe weiter. Die Kinderhorde, die mit mir, oder besser, mit der ich durch die Höhle geschleust wurde, ist schon längst weg. Auch eine nächste ist schon vorbei. Ich gehe zurück zum Hauptweg, und schon erscheint ein nächstes Gebäude. Auch seine Lider sind geschlossen, aber ich sehe Mannen, die in der Halle werkeln. Nun, einer werkelt noch, die anderen fünf sitzen draussen auf improvisierten Bänken und besprechen bestimmt die nächsten Arbeitsschritte. „Es ra aris?“ (Was ist das?) „Das Informationszentrum!“ „Ihr renoviert es?“ „In 2-3 Monaten wird es fertig sein“, „super“, erwidere ich. „Wann wurde das gebaut?“ „Das ist alles von 2010.“ „Misha?“ frag ich. „Ki, magaria“ (Ja, er ist toll), sagt der grauhaarige Mann im schwarzen Trägerhemd lachend, die anderen stimmen ein. Er meint Misha Saakashvili, den Präsidenten Georgiens von 2004-2012, das Lachen des Arbeiters lässt offen, wie ernst es ihm mit seinen Worten tatsächlich ist, von Herrn Saakashvili mag man und frau halten was sie wollen, für den Tourismus in diesem Land, das kann ich ihm nicht absprechen, hat er viel getan.
Eigentlich wollte ich Dir, geneigter Leser, geneigte Leserin, von der blauen Schlaufe erzählen, die auf dem grossen Orientierungsschild des Parks, auf der Hauptroute gegen Schluss, eingezeichnet ist. Ein offizieller Wanderweg, den ich an diesem Tag zum ersten Mal unter die Füsse nahm, und zwei Tage später, nach einer Erholungseinlage, nochmals, denn beim ersten Mal gelang es mir nicht, sein Geheimnis zu enträtseln; ich werde Dir davon ein ander Mal erzählen.

Westgeorgien_1

Einer Tour, deren Schwerpunkt im Westen Georgiens liegt, wollte ich schon lange auf die Spur gehen. Über den Rikotipass, der seit einiger Zeit von einem riesigen Tunnelbauprojekt drangsaliert wird, kam ich vor einigen Tagen in Kutaisi, der kulturellen Hauptstadt Westgeorgiens, an. Der Fluss Rioni führt von vergangenen Regenfällen rauschende Wassermassen durch die Stadt

Fluss Rioni in Kutaisi nach starken Regenfällen

Kaum angekommen, erinnere ich mich an die bequemen Sandalen, die zu Hause geblieben sind. Das subtropische Klima, welches ab Kutaisi den Schweiss treibt, war mir, 200 km östlich, leider nicht mehr präsent.

Ab Ende Juni bis Mitte September sind in Georgien Schulferien und das wird mit Ausflügen zelebriert: Schnatternd lachende Kinderhorden überraschen Sehenswürdigkeiten im ganzen Land. So auch Sataplia, den Naturpark unweit von Kutaisi. Fussabdrücke von Dinosauriern gibt es dort am Boden zu sehen und eine kleine Tropfsteinhöhle, und mir begann es so richtig zu gefallen, als ich mich auf einem schmalen Pfad, tief drinnen im dampfenden Buchenwald befand

subtropischer Buchenwald in der Region Imereti