Herbst in der Region Kartli

Wenns im Wald aussieht wie bei Robin Hood, und die Blätter im Himmel wie Bernstein funkeln, dann ist es Zeit für diese Spezies:

Meine Nachbarn, Dali und Schalo, haben bei uns rechterhand einen prächtigen Gemüsegarten, in welchem die Trauben hoch hinauswachsen. Ursprünglich schlängelten sich die Reben in Georgien einfach die Bäume hoch. Später wurden für sie in den Gärten gross angelegte Pergolas konstruiert, welche sich vielerorts bis heute gehalten haben, so auch bei Dali und Schalo. In einem guten Jahr ernten die zwei rund eine Tonne Trauben ums Haus und Garten. Weil die Georgier*innen traditionell lieber Weisswein trinken, sind auch bei ihnen dreiviertel der Trauben weisse Sorten: Tita (Tafeltraube, im Bild oben), Tschinuri und Goruli Mzvane, beides regionale Sorten. Bei den Schwarzen, auf europäisch Blaue, gibts in kleiner Menge eine grössere Auswahl: Aus Westgeorgien stammend Aladasturi, aus Ostgeorgien stammend Saperavi, Pinot noir und zwei Sorten, die Schalo Prangi nennt. Prangi heisst auf Georgisch Franzose, er weiss nicht genau, wie die Sorten korrekt heissen. Das spielt keine Rolle, denn es kommt sowieso alles, weiss und schwarz getrennt, ins gleiche Stampfbassin. Ich bin bei der Ernte dabei, an einem Wochenende wird mit Hilfe der engeren und weiteren Familie die ganze Pracht abgeschnitten; Gego, Abkürzung von Giorgi, Grosskind von Dali und Schalo, ist der Steuermann:

Dieses Jahr wirds nicht so viel Wein geben wie letztes Jahr, Schalo ist ein bisschen besorgt, denn die letztjährigen 800 Liter sind fast ganz weggetrunken. In der Vorratskammer hinter der Küche darf ich noch von den letzten weissen Tropfen probieren. Fruchtig, leicht und perlig, wie von den Kartli-Trauben zu erwarten war. Von den Tschinuri wird auch gerne Schämpis gemacht. Für Familienwein werden die Trauben selbst gestampft, der Saft und was an Gröberem mitkommt, gelangt bei Schalo durch ein kleines Loch unten im Bassin direkt in den Abfüllraum. 20-Liter-Glasbehälter werden abgefüllt, in ihnen findet dann der gesamte Gär- und Filterprozess statt. Anders als mit den Kvevri (siehe auch diesen Link zum Thema), werden die Glas- oder manchmal auch Plastikbehälter immer wieder umgeschüttet, so bald sich die Traubenreste auf den Boden gesenkt haben. Es wird so lange umgeschüttet, bis der Wein klar ist.

Auf dem ausrangierten Lada, die Autonummern von alten Autos werden hier nicht abgegeben, da auf sie keine Steuer erhoben wird, stehen zum Trocknen Walnüsse und Gomschi, Quittenschnitze.

Nach 14 Uhr, georgische Mittagszeit, ruft Dali zum Essen. Es gibt eigenen Speck, Russischen Salat, der heisst hier übrigens Französischer Salat, gerollte Auberginen mit Walnussfüllung, Sardinen gebraten und eingelegt, gebratene Kartoffeln, frische kleine Gurken (bekannt als Salzgurken) vom Garten, auch die letzten Tomaten von dort, und Brot. Zum Trinken wird eigener Cognac in kleinen Weingläslein gereicht. Die Frauen enthalten sich, ich anerbiete mich zum Probieren. Uiiii, mir rauchen sofort die Ohren. Die Trinksprüche des Hausherrn lauten auf die Region Kartli, auf die Georgier*innen, die ins Ausland gingen um sich ein Überleben zu sichern, die Verstorbenen, die Kinder, und zum Schluss meldet sich Dalis Schwester mit einem gefüllten Gläslein Coca-Cola zu Wort: Möge doch Dalis Sohn, er sei bereits 32, endlich die ersehnte Schwiegertochter nach Hause bringen, damit Dali ein nächstes Mal die ganzen Köstlichkeiten nicht mehr alleine zubereiten müsse!
Nach einem türkischen Kaffee und Häpplein von Dalis kunstvoll gefertigter Schichtentorte, kraxeln wir wieder auf die Stellleitern.

Menschen beobachten

Seit Januar dieses Jahres bin ich Teil einer Schreibgruppe von sechs Frauen, die sich im Rahmen der Seniorenuni Zürich formiert hat, geleitet wird sie vom Professor für Populäre Kulturen, Alfred Messerli. Thema Autobiografie. Wir treffen uns ein Mal monatlich über Zoom, Internet. Es gibt auch Hausaufgaben, im September hiess es an einem belebten Ort Menschen zu beobachten. Nun, fünf Minuten von meinem Daheim war ich mitten im Geschehen:

Lispelndes Gemurmel in der morgenfrischen Herbstluft. Wortbrocken fallen heraus. Ra rirs? Ori lari. Aus allen Richtungen legen sich Stimmschichten übereinander, verweben sich, zerreissen, Ara es minda, und überlagern sich erneut. Sie sucht in der klimpernden Büchse nach den passenden Münzen, die vor sie hingestreckte gebräunte Arbeiterhand wartet auf das Rausgeld. Die Zubringerstrasse des Dorfes Garikula, welche von der entzweigebrochenen, aber immer noch befahrenen Brücke über dem meist trockenen Urbecha-Bachbett zur Hauptstrasse führt, hat sich, wie jeden Sonntag, in einen lebhaften Bauernmarkt verwandelt. 
Vor ihr schieben sich Menschen mit schwer gefüllten dünnen Plastiktüten dem schmalen Eingang des Markthofes zu. Auf ihrer Brettlade sind schmale weisse Kerzen, uneingepackte Seifen, aufgewickelte braune Schuhbändel, schwarze kurze Frauensocken und hinten, zu einer kleinen Pyramide aufgereiht, dunkelgraue Toilettenpapierrollen ausgelegt. Im Gespräch mit der stehengebliebenen weisshaarigen Frau führt sie langsam die Hand zum Ausschnitt ihres violetten Pullis, fasst mit den Fingern leicht darunter und schiebt die Träger des Unterhemds oder BHs zurecht. Feine sanftbeissende Fetzen von Rauchschwaden eines angrenzenden Gartens mischen sich in die Luft. Ein heller Wortwechsel von weit her, gebrochen vom Zwischenruf des grossgewachsenen Mannes mit unerwartet eingesunkener Brust unter dem rotblauweiss karierten Kurzarmhemd. Er faltet sich in den kleinen orangen Lada. Der plötzliche Lärm des gestarteten Motors scheucht das ruhig vor sich hinrieselnde Stimmengewirr auf, laut stiebt es, wie aufgeregte Gänse, auseinander. Rurrend und dunkel fauchend bewegt sich das Gefährt langsam rückwärts aus der Parklücke. Stoppt, die Tür öffnet sich, der mit weissgrauen Stoppeln übersähte Schädel des Fahrers schaut zurück. Am Boden ausgelegte weisse Säcke, gefüllt mit mattgrünen Stangenbohnen, Rebenpfirsichen und Kartoffeln stehen nicht weit von seinen Hinterrädern. Modi, Modi! rufen ihm die zwei älteren Männer, heftig gegen sich winkend, von der Strassenmitte zu. Der kahle Schädel verschwindet und der Lada setzt sich rottelnd wieder in Gang. Die kleingewachsene Marktfrau mit dem dunklen aserbaidschanischen Gesicht wird von der alten Autobüchse samt ihrer weissen ausladenden Säcke langsam verdeckt. Mit einem Schlag auf die hintere Seite des Kofferraums gibt der eine der zwei Männer dem Fahrer zu verstehen, dass er genug ausgeholt habe um nun vorwärts auf die ungeteerte Strasse einzubiegen. Das flache helle Holzkreuz mit gerundeten Ecken schaukelt beim Richtungswechsel unter dem Rückspiegel wild hin und her. Die kleine Frau mit schwarzem langem Rock und abgetragenen staubigen Sandalen wird wieder sichtbar, ein junger vollbärtiger Mann gestikuliert mit ihr. Mit dem Kinn zeigt er schräg hinter sie. Oberhalb des weissen Kastenwagens schichten sich dunkle Wolken in die Höhe. Ein sternförmig blauer Schlitz hat sich darin aufgetan und wandert durch das Grau. Als er stehen bleibt, sind zwei weisse zerzauste Wolkentupfer zu sehen, die weit oben durch sein sonntägliches Blau treiben. 

Sicht über unser Hochtal unweit von Kaspi, Region Kartli, Georgien

Morgenspektakel bei mir im Dorf

Samstagmorgen, 07:16, die Hauptstrasse von Achalkalaki in Zentralgeorgien ist leer, nur zwei ältere Herren halten am Strassenrand einen Morgenschwätz. Wartend vor der Apotheke mach ich ein bisschen Beingymnastik, das fiel mir plötzlich ein, früher machte ich das oft, und beim nächsten Mal schauen gehts los: Das muss die Leitkuh sein, mit sicherem Schritt führt sie den rumpelnden Tross an, von den Seitenstrassen stossen laufend mehr dazu

Nini, die Viehüterin, hält die lebhafte Schar mit ganzem Einsatz zusammen, mit ihrer dunklen Stimme ruft sie laut und fast ohne Unterbruch „Hoho, hoho!“

Rund hundert Kühe treiben Nini und ihr Bruder täglich von den zwei Dörfern Achalkalaki und Garikula ins süsse, würzige Grün. Von viertel nach sieben bis halb acht sammeln sie auf der Hauptstrasse der zwei zusammengewachsenen Dörfer die Tiere ein, dann gehts ostwärts raus aus den Häusern, aber halt, da kommen noch welche von oben, und Tamar sitzt geniessend im Kinosessel vor ihrem noch geschlossenen Gemischtwarenlädeli.

Es wird gedudelet, wie ich früher auf dem Schulweg, heiss und dampfend gebrunzt, das hab ich natürlich nicht gemacht, und überall genascht wo’s was zu naschen gibt, das jedoch hab ich auch gemacht

Durch den Friedhof, einer von mehreren, die auf den Hügeln oberhalb der zwei Dörfer verteilt sind, gehts dann ab auf die grossen Wiesen, die von Gelb wieder auf Grün gewechselt haben seit es im August öfter mal wieder regnet, nachdem in der Hitze von Mitte Juni bis Ende Juli kaum ein Tropfen fiel

Bruder Schalva kommt mit der Nachhut

Nino treffe ich später, sie verpasste den Tross in der Hauptstrasse und muss ihre vier Milchspenderinnen nun selber zur Herde bringen

Und Sopo, zu Deutsch Sofie, macht vor dem grossen Gemischtwarenladen im Zentrum sauber; um 9 Uhr wird geöffnet.

S’ist wie’s ist

Die georgische Kleinstadt Kaspi im Januar
Farbenfrohes Design der neu gebauten Schule in Kaspi, Region Kartli

Bei schönem Wetter hat die kleine Rayonhauptstadt mit ihren rund 13’000 Einwohner*innen etwas Mediterranes, sie ist ausladend angelegt mit vielen Bäumen, und das Design der neuen Schule kanns mit jenen in Tiflis allemal aufnehmen.
Meint’s der Himmel jedoch weniger freundlich, wirkt sie verloren und das einfache Leben, das die Menschen hier führen, ist leicht abzulesen

Für mich ist Kaspi von unserem neuen Wohnort in 12 km erreichbar und hat ein grosses Plus: Rund um den Marktplatz kann ich zu Fuss alles finden was ich brauche. Ohne Stau und ohne Stress, Beschaulichkeit am Samstagnachmittag, mit ganz eigenem Flair: Der Blumenladen lädt ein, er ist gleichzeitig Coiffeursalon

Historisch ist Kaspi ein schweres Kaliber: Wichtige grosse Handelsstadt an der Seidenstrasse ab dem 4. Jh., im 8. Jh. von den Arabern gelöscht. Natürlich aufersteht sie wieder, die Stadt, wir sind ja schliesslich in Georgien. Nur wenige Kilometer entfernt findet sich ein archäologisches Paradies, das Grakliani-Hügelgelände. Nur ein Bruchteil von seinem Schatz wurde bisher ausgegraben, im 2015 machte man den aktuell wichtigsten Fund: Die Inschrift eines Feueraltars, Teil einer Tempelanlage, datiert auf knapp 3000 Jahre zurück.

Mich führten gestern jedoch ganz praktische Gründe nach Kaspi: Der Schlauch von der Dusche musste ersetzt werden, das Verbindungsteil zur Brause fiel in Stücke nach einem kräftigen Schraubversuch – soviel zu chinesischem Metall, und der Reissverschluss meiner Winterjacke, Sato probierte daran seine Backenzähne aus. Den Schlauch fand ich schnell, dem Handwerksgeschäft im Untergeschoss neben den Bahngeleisen statteten wir schon öfters Besuch ab, wo sich jedoch eine Schneiderei befinde, musste ich zuerst auf dem Markt nachfragen. „Gleich gegenüber, im hohen Haus, 2. Stock“, bekam ich zur Antwort.

Schneiderin in ihrem Atelier, 50 km von der georgischen Hauptstadt Tiflis

Elena war grad am Bügeln, als ich eintrat. Hier wars schön warm! Dank Gasöfeli in der Mitte plus Bügeleisen und Dampf spürte ich einen wohligen Kontrast zum schneidend kalten Wind draussen. „Mit meinen zwei Kolleginnen arbeite ich hier schon seit Jahren auf eigene Rechnung“, erklärte sie mir. In einer Stunde konnte ich die Jacke mit neuem Reissverschluss abholen. Ich war zufrieden mit dem Resultat, ich weiss wie mühsam es ist einen Reissverschluss rauszuoperieren und einen neuen einzusetzen – auch ich hatte schon mal das zweischneidige Vergnügen in einem Schneideratelier zu arbeiten.

Hier sind wir an der Rustaveli Avenue in Tiflis, Sommer 2019

Wie sagt Wacho? -In der Pampa.

Die hinterste Gebirgskette auf dem Bild jene des Grossen Kaukasus. 50 km östlich von unserem Standpunkt Tiflis. Unterhalb der Kapelle unser Dorf. Sato, eine Jagdterrier Welpe gehört neu zu uns. Und ein Haus. Für mich ist es wie ankommen, obwohl ich mir das mein ganzes Leben nie wünschte. Ein eigenes Haus – und dann kam 2020 und im Herbst wurde es dringlich. Der pure Zufall oder auch mehr hat mich in diese offene Landschaft geführt und uns ein Haus beschert, wie es hier in Georgien nur selten zu finden ist: Keine Villa mit Pool, davon kann man oder frau sich rund um Tiflis unzählige kaufen, sondern ein Mittelstandshäuschen, sorgfältig gemacht und grad zum Einziehen. Gaszentralheizung und Cheminée, wenn ich vom Garten aufs Haus schaue mit den zwei Autos (das Tourenauto und ein kleiner Opel, den uns zwei Schweizer Road Rowdys mal gebracht haben), denk ich in einem Film zu sein der nicht der meine ist und doch ist es genau meiner. Ich bin angekommen. Heute Nacht schneit es, wir sind auf rund 750 m.

Garikula heisst das Dorf und was mir hier am meisten auffällt sind die vielen Hunde. Von jeder Couleur. Der mit dem krummen linken Vorderbein und den treuen Augen, jener mit der überdimensionierten Pfote und der beige Labrador des Nachbars gleich gegenüber, der dauernd von Mura, unserem selbsternannten Hauswächter, auf die Schnauze kriegt. Schauen wir, wie sich Sato in diesem Umfeld zurechtfindet.

Am 30. Dez. kamen wir an und heute leerte ich die letzten Kisten. Glück gehabt, der vorherige Besitzer hinterliess uns fast alle seiner fast neuen Möbel inkl. Waschmaschine und Kühlschrank. Das heisst, ich habe in Georgien noch kaum je ein Möbel kaufen müssen. Wacho hatte beim Zügeln das Gefühl meine Pflanzen würden am meisten Platz beanspruchen und vielleicht hatte er recht. Meine treuen Wegbegleiter. Und endlich hat es auch draussen davon so weit das Auge reicht. Ansonsten schauen wir nel nela/langsam, wie sich hier unser Leben entwickelt. Wacho taucht wöchentlich für einen Tag und eine Nacht zurück in die Stadt, es ist klar, seine Idee war das nicht. Und doch ist er da und das bedeutet viel. Je t’aime.