Dorfleben im Winter

die Sonne scheint, auf der Strasse ist jedoch noch vereist

Auf dem Stuhl stehend, langt sie nach der flachen Blechschachtel, die auf dem Holzschrank, hinten gegen die Wand, versteckt ist. Gvantsa ist klein und kräftig gebaut, über den schwarzen dicken Winterstrümpfen trägt sie einen dunklen Wolljupe. Den Kopf hatte sie mit einem farbigen Wollschal umwickelt, als sie mich vor kurzer Zeit in der Kälte durchs Gartentor einliess. Jetzt stehen ihr, ohne Schal, die dunkelbraun gefärbten Haare wie eine Gugelhopfform um den Kopf. Als sie in der Schachtel zu nesteln beginnt, schau ich zurück aufs breite Bett vor mir. Ich sitze auf einer schmalen Sofabank, neben dunkelbraun marmorierter Kommode mit altem Fernseher drauf. Als ich wieder in Gvantsas Richtung schaue, seh ich gerade noch, wie sie vom Stuhl rückwärts aufs schmale Bett hinter sich fällt. Ohne einen Laut von sich zu geben, federt ihr Körper von der roten Häkeldecke, die über einem dicken Duvet liegt, zurück, und den zweiten weichen Aufprall nutzt die 79-Jährige, um mit Schwung seitlich vom Bett wieder auf die Füsse zu kommen. Perfekt gestanden. Ohne ihrer Akrobatik Beachtung zu schenken, kommt sie durchs Zimmer auf mich zu: “Was ist das?” fragt sie mich, während sie mir etwas in die Hand gibt. “Gestern, als mein Neffe ging, lagen auf dem Sessel fünf Stück davon.” “Eine hundert Dollar Note.” In der Mitte steht, leicht glänzend in Rosa, Happy Birthday. Das Papier lässt sich widerstandslos einreissen. “Die ist nicht echt. Aber zeig sie einer Bank, wenn Du das nächste Mal in der Stadt bist.” 

Gvantsa lernte ich auf dem sonntäglichen Dorfmarkt kennen. Im Winter bietet sie Hagebutten und Kaki aus ihrem Garten feil und Sanddorn vom Wald, in viel Zucker eingekocht. Ihre Auslage am Boden nimmt sich ärmlich aus neben den grossen Mengen Mandarinen, Orangen, Kartoffeln und Kohl der andern. Meist sitzt sie im Rechteck der zurückgeschobenen Seitentür eines Lieferwagens, der hinter ihrem Standplatz an der Mauer parkiert ist. Im Frühling stehen vor ihr schwarze niedere Plastikkübel, gefüllt mit leuchtend gelben, violett und weissen Blumen; ihre Leidenschaft. 

Als wir auf niedrigen Schemeln am ebenso niedrigen Tischlein an der Ecke ihres grossen Bettes bei süssem türkischen Kaffee sitzen, lässt sie mich wissen: “Für dreihundert Lari hab ich Veilchensetzlinge gekauft, fünf Kapiki pro Bund, das war sehr günstig!” ihre dunkelbraunen Augen schauen lebhaft und erwartungsvoll an mir vorbei ins Weite. Mit einem geschäftstüchtigen Lächeln fährt sie fort: “Ich werde die Veilchen im Frühling zu kleinen satten Sträussen binden und sie in Temka verkaufen,” ein Tifliser Aussenquartier, “im Nu werden die weg sein!” 
Als ich nach einer Weile ihr Haus durch den Garten verlasse, ist der Strassenhund nicht mehr da, der mich vorher begleitete.

Georgische Polyphonie

Herbstwinde hatten wir dieses Jahr noch nicht viele, es war warm bis Mitte November, aber heute windet es kräftig, zieht an Büschen und fegt durch die leeren offenen Baumkronen. Zeit, um sich in die häusliche Wärme zurückzuziehen. Geniesse mit mir georgisch polyphone Musik!

Der Frauenchor von Gori, Zentralgeorgien, wurde 2016 durch die internationale Tournee mit Katie Melua berühmt. Hier in einer britischen Fernseh-Show. Katie Melua, ursprünglich aus Kutaisi, Westgeorgien, ist Sänger-/Songwriterin und das Lied, mit dem sie an ihre georgischen Wurzeln anknüpft, ist leicht wie hüpfende Schneeflocken

Teona Tsiramua, die langjährige Dirigentin des Gori Frauenchors, sie ist auch Sängerin, lädt die Frauen immer wieder zu neuen Experimenten ein. Hier französisch, Les Feuilles Mortes

Vor wenigen Tagen traten die Frauen im Georgischen Fernsehen mit Lela Tataraidze auf, ein religiöses Lied, „Machkvdia“. Siehe auch meinen Blogbeitrag Georgischer Musik (August 2019), wo Lela Tataraidze mit dem eigenem Instrumental-Ensemble singt

Du interessierst Dich für Georgische Musik? Hier ein paar Beispiele verschiedener Genres:
https://brigitterenz.com/2019/08/10/georgische-musik_2/
https://brigitterenz.com/2019/08/25/georgische-musik_3/
https://brigitterenz.com/2019/10/10/musik-georgien_4/
https://brigitterenz.com/2019/11/09/musik-von-georgischen-liedermacherinnen-inola-gurgulia-und-manana-menabde/

ზაფხული , Sapchuli (Sommer)

Es wächst, es wächst, schiesst in die Höhe, hält sich fest, schlängelt nach oben, hat Dornen, hat keine, verliert die Früchte nach dem Blüh’n, ganz zurückgeschnitten und trägt doch wieder Feigen, Erdbeeren wuchern, Pfefferminz, eine Roggenart hat sich von letztem Jahr überall festgesetzt, wird golden, die Winde, Hopfen, hohe Blumenfühler versamen, unten spriesst es neu, Bienen sammeln von früh bis spät in weissen, lila oder pink Blumenkelchen, die Rebe schaut am Ende der Pergola wippend, wie ein Drache mit grossen Ohren, nach neuen Andockmöglichkeiten. Es hat geregnet im Frühling, überzeugend geregnet, dann sehr warm und immer wieder Nass, Donnern und Grollen ganze Morgen lang, stösst die subtropische Klimazone nach Osten vor? fragten wir uns, aber jetzt ist wieder Ordnung, ein toller Sommer, warm und auch heiss, wie liebe ich das Zirpen der Grillen und dieses Jahr haben sich Singzikaden dazugesellt, seltsames Flattern der Schmetterlinge, drehen um sich selbst, ein Flügelschlag nach oben, sich fallen lassen um gleich wieder hochzuwirbeln, ein Hakenschlag nach rechts, nach links, fort, und wieder da, verschwunden. Eine Libelle kommt.

Dank den frühlingschen Niederschlägen ist der Wasserkanal oberhalb meines Gartens dieses Jahr immer voll, ca. einmal wöchentlich wird geschwemmt, der Wasserstrahl ist kräftig, zügig arbeitet sich die Feuchtigkeit durch den Boden, um schliesslich unten durch das Stützmäuerchen hervorzuquellen. Gesammelt läuft das Wasser dann die Strasse runter. “Brigitta! Wasser ist auf der Strasse!” Die Nachbarn machen sich Sorgen und ich marschiere mit meinen Riesenstiefeln, Grösse 45 und reichen bis zum Knie, nach oben, steige in den Kanal und stopfe das Loch. Ich mag das Schwemmen. Früher floss Wasser aus einem Kübel von Kinderhänden gehalten durch den Sand, Gräben wurden gebaut, Hügel geschichtet, Flüsse gestaut, heute fliesst das Wasser über Nussbaumwurzeln, Apfel- und Kirschbaumfüsse, durch Taubnesseln und viele Pflanzen, deren Namen ich nicht kenne. Der Wiedehopf war da, als der Boden noch kahl war, das üppige Grün scheint ihm nicht zu behagen. Mücklein steigen mit gespitzten Ohren senkrecht auf, um auf derselben Linie wieder runter zu sinken, horchend, jederzeit zu einem Hüpfen bereit, Notenköpfen gleich, die ihre Position auf den Linien suchen, ein Schlenker zur Seite, ein Intermezzo mit dem Nachbarn, schnelles Auf und Ab, dann grosser Notenbogen durch den Raum.

Ornamente

Schnitt, Kleinstadt Gori, Zentralgeorgien.

Eine grosse Tafel mit hunderten georgischen ornamenten ziert eine Hauswand in Gori

Hunderte georgischer Ornamente zieren die Gebäudewand im Hintergrund eines kleinen Parks. Wie wunderbar! Ich entdeckte sie vergangenen Montag.

Nebst Löwen, Hirschen, Fischen, ja auch eine Erdbeere entdeckte ich, ist auf den einzelnen Keramikkacheln auch hin und wieder ein georgischer Buchstabe eingebrannt. Iakob Gogebashvili (1840-1912), dessen Büste auf der Säule im Gras steht, war Pädagoge, schrieb für Kinder und als Journalist auch für die Grossen. Deda Ena (Muttersprache) heisst sein Leseschulbuch, mit dem seit 1880 alle Georgischen Kinder ihre Muttersprache auch schriftlich lernen. Noch heute, in modernisierter Form, ist es im Einsatz.

Die Ornamenttafel und die Büste vom georgischen Pädagogen Iakob Gogebashvili

Koffer packen

Nein, nein, nicht für immer, nur für zwei Wochen. Mal wieder die Schweiz besuchen. Und stell Dir vor, zusammen mit Wacho. Nie haben wir zusammen Georgien verlassen. Jetzt packen wir’s.

Wie schnell sind die drei Jahre vergangen, in denen ich heimatabstinent war. Heimat, das ist für mich zuerst etwas Inneres und dann erst kommt das Physische, die Landschaft in der ich aufgewachsen bin, die Menschen, mit denen ich familiär verbunden bin, die Menschen, deren Freundschaft mich ehrt, und die Städte, die im Verlauf der Jahre ebenfalls Teil von mir wurden. Robert Walsers Grab in Herisau hätte ich gerne besucht, und in diesem Zug auch ehemalige Gäste aus dem Appizöll, die mit mir in Georgien auf Tour waren, aber dafür wirds ein ander Mal Zeit geben.

Wenn ich oberhalb meiner Wohnstätte im winterlich fahlgrünen Gras spaziere und in die lustig gerundeten Hügel schaue, den schroffen Fels mit zuweilen dunkelroter Maserung am anderen Ende des Hochtals studiere und darüber hinaus in die weissen Gipfel des Kaukasusgebirges schaue, sofern die Wolken woanders rumlungern, denke ich, dass das mit der Heimat doch etwas Seltsames ist. Es reicht, für eine Schweizerin, sich einen Ort auf der Welt auszusuchen und zu sagen, da bin ich. Die Hügel werden dich annehmen, die Nachbarn, ja, Hunde werden dir zulaufen und dankbar sein, dass du sie auf deiner Veranda schlafen lässt. Ist das nicht genug, ist das nicht wunderbar?

Weihnachten ist morgen

Als ich unseren Bauernmarkt verlasse, stehen da noch immer die Leute mit dem Federvieh, ein paar Hühner und viele Truthähne. Weihnachtszeit, die Orthodoxen feiern Christi Geburt am 7. Januar. Vor dem Mäuerchen stehen mehrere kleine Trutengruppen beieinander. Die Schwarzen, die Weissen, die Braunen und die, die von allem abgekriegt haben. Will ein Tier davonrennen, kippt es sofort um, denn ihre Füsse sind mit Schnüren untereinander verknüpft. Rauf, runter, lockeres Schwingen der flachen Köpfe zur Seite, zurück, die seitlichen Augen drehen sich neugierig. Kurze Gurrlaute entfliehen den roten Schnäbeln. Ich stehe und schaue. Ich bin hier eine schräge Nummer, schaue wie verzaubert, und will nichts kaufen, darum letztlich völlig uninteressant. Am unteren Hals, bevor die Brustfedern beginnen, hängen zwei bis drei fingerbeergrosse rote runde Hautballen. Sonst sind Hals und Kopf überdeckt mit glatten unregelmässigen Hautausstülpungen. Schlangenhaut mit Ausschlag, wild darüber gekleckert die Farben. Von dunkel zu wässrigem Rot, fahles und leuchtendes Pink, Weiss, und vergilbtes Hellblau. Wer nur hat diese Tiere erfunden? Manchmal hängt zwischen den Augen ein langer roter Hautschlenker herab, gerade über den Schnabel, oder seitlich verrutscht.

Vorher probierte ich bei der fülligen Frau mit dem Pantoffel-Stand verschiedene Mützen. Ich suchte nach einer Feinen, die ich unter der Gestrickten anziehen kann, denn bei Wind zieht es mir mit nur einer Mütze an den Schädel. Als die Auswahl enger wird, suche ich mit den Augen nach einem Spiegel. Die Verkäuferin zeigt aufs Auto hinter sich. Auf dessen Dach stehen verschieden grosse Gummistiefel. Ich gehe nach hinten. Meint sie den Seitenrückspiegel? Ich bücke mich zum kleinen Spiegel und merke, dass er ins Autoinnere zeigt. Was mach ich hier? “Ar scheidzleba!” (Funktioniert nicht!) Ruf ich der Frau zu. Jemand fragt: “Was will sie?” “Einen Spiegel!” Die Verkäuferin schaut zu mir und deutet auf das andere Auto. Die halten mich sicher für doof. Ich zeige ihr den Vogel, wie um mich zu rehabilitieren. Wir lachen. Ich komme zurück und kaufe die Mütze. 

Mura

Du bist mein Begleiter geworden, mein geliebter Freund. Beim Halt auf einem unserer letzten Spaziergänge legtest du die rechte Vorderpfote leicht über mein am Boden ausgestrecktes Bein. Welch überraschende Geste. Als wir uns kennenlernten, hatte dein Blick etwas Gefangenes, eine mechanische Konstruktion im leeren Raum, Zurückweichen war darin, Angst auch. Seitdem ist das Braun deiner Augen samten geworden, warm. Es schaut mich einfach an, oder spürt mich mehr, nicht schweifend, nicht direkt, schlicht da.

Noch vor zwei Jahren wusste ich kaum etwas über Hunde. Ich war unerfahren und gleichzeitig unbefangen, Angst plagte mich keine. Wacho und ich bezogen unser Haus auf dem Lande mit einem jungen Hund dabei. Und du, Mura, schliefst schon seit Jahren auf dem verwitterten Sofa, draussen vor dem Haus, unter der Veranda. Nach einem Jahr verloren wir das Hündchen, schon ein kräftiger Jugendlicher geworden. 

In georgischen Dörfern gibt es viele Hunde, so auch in unserem Quartier. Du warst der Chef, Mura. Jeder Hund, der sich bei uns in die Strasse verirrte, wurde sofort gebeugt. Du sprangst ihm oder ihr auf den Rücken und bissest in den Nacken. Die rohe Gewalt liess mich jedesmal erschauern. Einmal sah ich vom Garten aus, wie ein grösserer Hund, vom kleinen Pfad, der in unsere Strasse mündet, zurück getrippelt kam, verjagt von euch bellender kleiner Schar. Er war grau und kurzhaarig, jedoch nur noch Hinterteil, nur noch Schwanz zwischen die hinteren Lenden geklemmt, es bockte ihn förmlich auf, er war die reine entsetzliche Niederlage, Scham und Qual. 

Deine Schnauze, Mura, wurde immer weisser und du kamst immer seltener mit Verletzungen nach Hause. Mura kämpfte nicht mehr und ging leicht gebückt, aber auch in fremden Territorien reichte ein Fauchen seinerseits und junge, starke Hunde nahmen sich zurück. Nach der Infektion warst du doch wieder munter, aber es dauerte nicht lange, und du legtest dich unter den Tisch der Veranda, ganz im Kreis, die Schnauze am Schwanzansatz. Du warst sehr ruhig, fast nicht mehr da, ich durfte dir ganz nah sein. Du trankst und asst nicht mehr. Nach drei Tagen verliessest du unseren Garten. 

Mura gegenüber von Garikula, Kartli, Georgien

Gegen Abend

Oberhalb vom Dorf Ertatsminda schau ich in die Bergzüge des Grossen Kaukasus. Zumindest auf die vorderen Reihen, denn im Sommer liegen die hinteren, die mit den weissen Spitzen, meist im Dunst. Die Sommerwiese um mich herum duftet nach Violett, gelb werdendem Gras, reflektiertem Sonnenschein und dem Esel, der mitten im Feld steht. Schon hat er mich gesehen, dreht sich um, schnaubt und wiehert dieses Eselswiehern, das mich jedesmal verblüfft, es ist so hell und offen, und manchmal ist es menschenähnlich. Redet er mit mir? Die Antwort kommt von oben, Richtung Friedhof, hinter den Bäumen. Ich war also nicht gemeint.

Die Blumen verblühen bereits, ich befinde mich jetzt auf einer kleinen Wiese am Hang, bevor weiter oben die Bäume kommen. Sie ist voller Ringelblumen. Welch ein Glück, ich hab noch fast keine nach Hause genommen zum Trocknen, für Tee. Ich frage die Blumen ob ich darf, und nach einem gefühlten „Ja“ breche ich einigen den oberen Drittel ab. Ehrlich, wenn ich „Nein“ spüre, was vorkommt, dann lass ich es.

Ein Tierpfad führt mich unter den kleinen buschartigen kaukasischen Buchen hinauf auf eine Ebene. Schmale Maisfelder und geschnittene Grasflächen wechseln sich, gegen Norden schauend, ab. Ich stehe vor die Sonne und werde sichtbar

Hier ging der Weg runter zurück zum Dorf, oder besser gesagt, dessen Abkürzung. Ich dachte, das Foto mit den blau blühenden Blumen und Disteln im schattigen Vordergrund, und dem dahinter vom Abendlicht gelb leuchtenden Gras, würde nichts, aber die Mobilekamera hats automatisch ausgeglichen

Als ich fast unten bin, höre ich von oben Rufe. Ich blicke zurück und sehe viele Kühe, die auf unterschiedlichen Pfaden runter kommen. Erst bemerke ich keine Hunde, dann seh ich doch zwei. Ich befinde, dass ich vorwärts gehen sollte, nicht dass sie mich noch in den Hosenboden beissen. Die Strasse ins Dorf ist seit Neustem geteert. Ich spaziere also in der Mitte der schwarzen Bahn, dicht gefolgt vom Geräusch zockelnder Kühe und Hirtenrufen. Vorne, beim Dorfeingang, warten am Strassenrand Kinder auf der einen Seite, und auf der anderen, auf einem langen Steinblock sitzend, drei Frauen unterschiedlichen Alters. Alle schauen in meine Richtung. Bestimmt fragen sie sich, was ich mit den Kühen zu tun hätte. Spazieren, einfach zum Spazieren, ist in Georgien nämlich ziemlich unbekannt. Nun, vielleicht bin ich die neue Haupthirtin? Oder ich bringe eigene Kühe zurück, bin neu im Dorf? Ich bleibe bei ihnen an der Kreuzung stehen, und lasse die halb rennenden Kühe und Rinder vorbei, auch drei Büffel sind darunter. Im Hintergrund scheppert eine Strohpressmaschine. Ein neues Modell. Es ist stationär, schaufelt mit zwei nach oben herausragenden Armen das Stroh in sich hinein, das ihm der Mann mit der Gabel vor die Füsse wirft. Hinten kommt ganz langsam die Balle raus. Wie eine Geburt, Zentimeter für Zentimeter.

Und dann steh ich allein auf der Strasse. Geh ihr entlang, und da steht doch noch eine. Braun, mit einem dicken Bauch. Sie steht quer auf der Strasse und schaut mich an. Was soll ich sagen? Sie dreht sich um und geht vor mir. Sie ist chic. Hinter dem breiten runden Bauch endet oben spitz die Wirbelsäule, rechts und links davon spannt sich die Haut über die eher schmalen Hüftknochen. Ihr Hinterteil mit Schwanz zeichnet eine schmale Silhouette, die unten, bei den Klauen, in weicher Linie endet. Fehlt nur noch das Gucci-Täschchen. Das einigermassen volle Euter, oder vielleicht ist es voll, aber viel weniger prall als die Kuheuter in der Schweiz, schwingt neckisch vor den Oberschenkeln. Plötzlich biegt sie ab und ist nicht mehr da. Als ich zur Mauerecke komme, sehe ich, dass ein Fussweg zu einem Innenhof führt. Die braune Eisentür ist halb offen.

James Bond und koreanische Ladies

Schuhe werden in der Strasse verkauft, der Stand sieht aus wie ein Auto von James Bond

James Bond trinkt einen doppelten Espresso in der Cafébar, den Wagen hat er gleich davor abgestellt. Er ist auf Zwischenhalt in Gori.

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Seit April gebe ich ein paar Kindern aus der Nachbarschaft freundschaftlichen Unterricht in Englisch und Deutsch. Da lerne ich einiges, zum Beispiel, dass die kleinen Chicks von 9, 10 Jahren auf die Frauenband Blackpink stehen

Als eines der Mädchen Blackpink erwähnte, und dass das seine Lieblingsmusik sei, stellte ich mir vor, dass wir zusammen dem englischen Liedtext auf die Spur kommen könnten. Ich ahnte nicht, dass die Band aus Korea ist und auf Koreanisch singt! Im Untertitel ist Englisch zwar zu haben, aber der Text ist dermassen Schrott, dass ich das gestern spontan begonnene Projekt mit Blackpink in der Privatstunde wohl wieder fallen lassen werde. Oder ich finde eine andere Herangehensweise?

Noch eine Durchsage von Nini und ihrem Bruder Schalva, ich machte letztes Jahr eine kleine Reportage über sie. Schon hat sie die Zeit eingeholt und es ist nicht mehr möglich, mit rund 100 Kühen täglich in die grünen Wiesen oberhalb unserer Dörfer zu ziehen. Land wird verkauft und Zäune werden errichtet. Neu organisieren sich die Leute in kleineren Gruppen, im Turnus übernimmt jeweils jemand die Kühe der ganzen Gruppe, so viele Tage, wie man oder frau Kühe hat. Hast Du gewusst, dass in Georgien Kühe Frauensache sind? Früh aufstehen, misten, melken, Käse-, Yoghurt- und Quarkmachen, die Frau bestellts.

Klein und unerwartet

Gori, die Hauptstadt unserer Region, liegt 24 km westlich von uns. Sie ist in einer hübschen Fahrt durch Dörfer erreichbar, die im schmalen Hochtal zweier Hügelketten des Trialeti-Gebirges liegen. Die nördliche Hügelkette ist felsig, ich tippe auf stark erodierten Kalk-Sandstein, ich kann mich nicht satt sehen an den zerrissenen Felsen in wechselndem Licht. Die südliche Kette ist bewaldet. Gori hat rund 45 tausend Einwohner*innen und ist sowohl geschichtlich als auch visuell ein sehr reizvoller Ort. Das finde ich jedoch erst, seit ich in der Nähe wohne und mir auf meinen Besuchen Zeit nehme, um stehen zu bleiben und zu staunen. Vorher war es für mich ein verschlafenes Kaff, in dem Stalin geboren wurde.

Alles ist rund um den Festungshügel angeordnet. Unter dem Namen Tontio taucht er im 7. Jh. in georgischen Urkunden erstmals auf; archäologische Forschungen ergaben, dass sich darunter Überreste einer noch älteren Befestigungsanlage, datiert 3. bis 2. Jahrhundert v. Chr., befinden sollen. Die Burgruine wurde kürzlich renoviert, Arbeiten am Hügel ausserhalb der Festungsmauern sind immer noch im Gange. Als ich die Bagger sah, bekam ich Angst, dass sie die Skulptur, die mir so gefällt, eingewalzt hätten

Aber nein, sie war noch da. WK II. Bei diesem Thema angelangt, komm ich gleich auf die Stalin-Avenue zu sprechen, die breit und schnurgerade, unweit vom Hügel, südlich, liegt. An ihr weisen pompöse Stadtregierungs- und Administrationsgebäude auf den einst wichtigen Status der Stadt hin. Das Stalin-Museum, am Ende eines kleinen Parks, soll innen neu eingerichtet worden sein. Weniger stalinverehrend, kritischer. Ich hab den Besuch noch vor mir; als ich vor Jahren im Sommer drin war, hatte ich kalt, es ist sehr solide mit dicken Mauern gebaut, ich warte auf eine wärmere Jahreszeit. Die Gesinnungskonfusion rund um Stalin und seine Zeit scheint in Georgien gross zu sein „In der Schule wird von Stalin nicht mehr gesprochen“, erzählte mir meine Nachbarin.

Im Alltag dominieren für mich in Gori jedoch die vielen sehr einfachen Marktstände den Strassen entlang, oft sind die Verkäuferinnen und Verkäufer russischsprechend. Viele Secondhand-Kleider, da werden Teppiche und Türvorleger direkt aus dem Kleinbus verkauft, und hier stosse ich auf schöne Maroni, die hab ich gesucht. Sie sind in drei Grössen sortiert: klein, mittel, gross. Ich nehme von den Mittleren „Saidan arian/Von wo sind sie?“ „Zugdidi“. Die Maroni sind aus Zugdidi, das ist die Hauptstadt der Küstenregion Mingrelien. Fünfzig Meter weiter stehe ich vor dem in bester Sowjetarchitektur gehaltenen ehemaligen Kino Sakhli, dem Kinohaus. Es steht leer, in der einen Hälfte des Erdgeschosses hat sich ein Elektrofachgeschäft eingenistet

Auf der anderen Strassenseite, leicht verschoben im Park mit den grossen Prachtsbäumen, blitzt das Theater hervor. Auch aus der Zeit des Kinohauses, jedoch griechischer Stil. Letztes Mal war ich überzeugt es sei ausser Betrieb, doch jetzt hängen farbige Programmaffichen zwischen den stolzen, verwitterten Eingangssäulen. Ich geh rein und frage nach. „Heute ist Saisoneröffnung“ erklärt die ältere Dame vom Billettbüro. „Eine weissrussisch-georgische Produktion, ein Gastspiel, Schedzvale/Verändere Dich, heisst das Stück. Eben hat es am Ukrainischen Theaterfestival zwei Preise gewonnen.“ „Haben Sie das Stück gesehen?“ Sie schaut mich entrüstet an. „Ich habe alle Stücke gesehen, die wir im Programm haben.“ „Ist es gut?“ „Ja.“ „Warum?“ „Es ist sehr speziell, Sie müssen es sich selber anschauen.“ Später entscheide ich mich das Stück zu sehen. Sie hatte recht, es lohnte sich. Es war eine moderne Inszenierung, die Protagonistin sehr jung. Es ging um die junge Frau, die von ihren Eltern unbedingt verheiratet werden wollte, damit Geld reinkomme für die dringend nötige Renovation der Wohnung. Die Hilfs- und Wehrlosigkeit der jungen Frau standen deutlich im Raum. Ihr Handlungsspielraum wurde immer kleiner, die Verzweiflung immer grösser.
Tolle Leistung der gesamten Truppe, das hatte ich nicht erwartet; leider begegnet einem in Georgien oft genug Repräsentationstheater. Es ist eine Realität, dass in Georgien Kinder oft als Werkzeuge ihrer Erzeuger gesehen werden. Für soziales Prestige, zur wirtschaftlichen Sicherheit, besonders im Alter. Wen wunderts, wenn die Rente im Winter nicht mal für die Nebenkosten reicht.