Der Beginn

Seit mehr als 8 Jahren lebe ich in Georgien. Meinen Blog begann ich im Frühjahr 2015, wenige Wochen bevor mich das Taxi am 2. Mai mit meinem 32 kg schweren oder leichten Koffer zum Flughafen Zürich fuhr. Mehr hatte ich nicht dabei, als ich die Schweiz verliess. Später bekam ich noch vier bis fünf Kartonschachteln mit Büchern und den Wanderschuhen nachgereicht. Ich wusste: Wenns in Georgien nichts wird, dann reis ich einfach weiter; zurück geh ich nicht. In einer Privatschule in Tiflis konnte ich gleich zu arbeiten beginnen. Ich wurde dort zwar kaum integriert, was schmerzvoll war, aber ich erledigte meine wichtigste Aufgabe, Kontakte mit europäischen Unis für die Abiturabgänger*innen der Schule zu etablieren, und die restlichen Aufgaben übergab ich dem Wind, denn nie fragte mich jemand danach. Nach einem Jahr der Eklat. Eine nicht unseren vertraglichen Abmachungen entsprechende Entscheidung des um viele Jahre jüngeren Abteilungschefs machte mich dermassen sauer, dass ich ihn in seinem Büro, bei offener Tür, ausgereift abkanzelte. Was für eine Befreiung. Die immer so kontrollierte Brigitte fuhr aus dem Dampfkessel wie ein roter Pfeil und kündigte fristlos. Eine wichtige Errungenschaft, die ich mir hier erworben habe. Ich benutze sie nur im Notfall.

Erinnerungen

Die sakralen Hallen von Coop und Migros, der pensionierte Zürcher Uniprofessor, wie er Wacho während der Abschiedsumarmung übers Gesicht streicht, der Pfuusbus von Pfarrer Sieber, Kaffee getrunken in der Sonne vor dem Odeon; 1 Meter und dann kommt ein Zaun aus wacklig eingehängten rotweissen schmalen Baustellenlatten. Gleisarbeiten. Zwischen uns und dem Zaun spaziert eine neugierig blinzelnd kroatischsprechende Touristengruppe vorbei.

In der Stadt haben sie sich überhaupt nicht verändert, die grossen Einkaufszenter. In der Peripherie jedoch, im unteren Baselbiet, haben sie mich nachhaltiger beeindruckt als der Besuch des erneuerten Zürcher Kunsthauses. Stolze ruhige Flächen mit grossen freistehenden Vitrinen, elegante Regalzonen, dezentes Neonlicht. Vor mir stosse ich einen Gitterwagen, gross wie ein Schiff, es hatte keine anderen. Die Auswahl an Joghurts hat sich nochmal um ein Drittel vergrössert. Die Gutelaune Musik ist geblieben. Was sich im Wagen angesammelt hat, dürfen wir selber einlesen, wohl fürs nachhaltige Erlebnis, ein immersives, nicht wahr, und dann tritt plötzlich eine Frau mit adrettem Blüsli hinter meinem Rücken hervor und will einen Sicherheitscheck machen. Für Wacho ist klar “Sie kam, weil ich dabei stand”, ich meine jedoch “Nein, weil ich ihr die Sicht verdeckte”, denn ich verstand gar nicht, für was die lächelnde Frau da stand, als wir in die Kassen-Lounge kamen. Sicherlich ging es jedoch um den Funken Authentizität, den das Intermezzo vermitteln sollte. Wie gut das alles eingefädelt ist! 

“Am Feuer, als Du gestern unter den anderen Leuten im rauchigen Dunkel standest, wartend, bis der Rand deiner dünnen Holzscheibe glühend wird, und als Du die kleine Feuersonne dann in den Himmel schmettertest, spürte ich Dich als eine von dieser Scholle. Aber jetzt”, Wacho und ich sitzen auf dem Sofa im Wohnzimmer meiner Mutter, “Jetzt spüre ich, dass Du eine von uns bist. Du gehörst zu Georgien.”
Die verschiedenen Welten, in denen ich lebe, spalten mich nicht. Ich bin froh um die Einfachheit hier in Georgien, und in der Schweiz geboren und aufgewachsen zu sein, betrachte ich als Geschenk. Früher verstand ich nicht warum gerade für mich, dieses Geschenk. Nun, es ist einfach so.

With Love, from Bern!

Koffer packen

Nein, nein, nicht für immer, nur für zwei Wochen. Mal wieder die Schweiz besuchen. Und stell Dir vor, zusammen mit Wacho. Nie haben wir zusammen Georgien verlassen. Jetzt packen wir’s.

Wie schnell sind die drei Jahre vergangen, in denen ich heimatabstinent war. Heimat, das ist für mich zuerst etwas Inneres und dann erst kommt das Physische, die Landschaft in der ich aufgewachsen bin, die Menschen, mit denen ich familiär verbunden bin, die Menschen, deren Freundschaft mich ehrt, und die Städte, die im Verlauf der Jahre ebenfalls Teil von mir wurden. Robert Walsers Grab in Herisau hätte ich gerne besucht, und in diesem Zug auch ehemalige Gäste aus dem Appizöll, die mit mir in Georgien auf Tour waren, aber dafür wirds ein ander Mal Zeit geben.

Wenn ich oberhalb meiner Wohnstätte im winterlich fahlgrünen Gras spaziere und in die lustig gerundeten Hügel schaue, den schroffen Fels mit zuweilen dunkelroter Maserung am anderen Ende des Hochtals studiere und darüber hinaus in die weissen Gipfel des Kaukasusgebirges schaue, sofern die Wolken woanders rumlungern, denke ich, dass das mit der Heimat doch etwas Seltsames ist. Es reicht, für eine Schweizerin, sich einen Ort auf der Welt auszusuchen und zu sagen, da bin ich. Die Hügel werden dich annehmen, die Nachbarn, ja, Hunde werden dir zulaufen und dankbar sein, dass du sie auf deiner Veranda schlafen lässt. Ist das nicht genug, ist das nicht wunderbar?

Autobiografie Festival Schweiz

Ich freue mich. Am Sa 2. Juli, 16-17 Uhr, werde ich aus meinen Autobiografie-Texten in Heiden, im Appizöll, lesen. Diese werden anschliessend besprochen. Ich aus meiner Küche in Garikula, Georgien, Du im Hotel Linden.
Mehr Info zum Festival https://www.autobiografiefestival.ch/

Menschen beobachten

Seit Januar dieses Jahres bin ich Teil einer Schreibgruppe von sechs Frauen, die sich im Rahmen der Seniorenuni Zürich formiert hat, geleitet wird sie vom Professor für Populäre Kulturen, Alfred Messerli. Thema Autobiografie. Wir treffen uns ein Mal monatlich über Zoom, Internet. Es gibt auch Hausaufgaben, im September hiess es an einem belebten Ort Menschen zu beobachten. Nun, fünf Minuten von meinem Daheim war ich mitten im Geschehen:

Lispelndes Gemurmel in der morgenfrischen Herbstluft. Wortbrocken fallen heraus. Ra rirs? Ori lari. Aus allen Richtungen legen sich Stimmschichten übereinander, verweben sich, zerreissen, Ara es minda, und überlagern sich erneut. Sie sucht in der klimpernden Büchse nach den passenden Münzen, die vor sie hingestreckte gebräunte Arbeiterhand wartet auf das Rausgeld. Die Zubringerstrasse des Dorfes Garikula, welche von der entzweigebrochenen, aber immer noch befahrenen Brücke über dem meist trockenen Urbecha-Bachbett zur Hauptstrasse führt, hat sich, wie jeden Sonntag, in einen lebhaften Bauernmarkt verwandelt. 
Vor ihr schieben sich Menschen mit schwer gefüllten dünnen Plastiktüten dem schmalen Eingang des Markthofes zu. Auf ihrer Brettlade sind schmale weisse Kerzen, uneingepackte Seifen, aufgewickelte braune Schuhbändel, schwarze kurze Frauensocken und hinten, zu einer kleinen Pyramide aufgereiht, dunkelgraue Toilettenpapierrollen ausgelegt. Im Gespräch mit der stehengebliebenen weisshaarigen Frau führt sie langsam die Hand zum Ausschnitt ihres violetten Pullis, fasst mit den Fingern leicht darunter und schiebt die Träger des Unterhemds oder BHs zurecht. Feine sanftbeissende Fetzen von Rauchschwaden eines angrenzenden Gartens mischen sich in die Luft. Ein heller Wortwechsel von weit her, gebrochen vom Zwischenruf des grossgewachsenen Mannes mit unerwartet eingesunkener Brust unter dem rotblauweiss karierten Kurzarmhemd. Er faltet sich in den kleinen orangen Lada. Der plötzliche Lärm des gestarteten Motors scheucht das ruhig vor sich hinrieselnde Stimmengewirr auf, laut stiebt es, wie aufgeregte Gänse, auseinander. Rurrend und dunkel fauchend bewegt sich das Gefährt langsam rückwärts aus der Parklücke. Stoppt, die Tür öffnet sich, der mit weissgrauen Stoppeln übersähte Schädel des Fahrers schaut zurück. Am Boden ausgelegte weisse Säcke, gefüllt mit mattgrünen Stangenbohnen, Rebenpfirsichen und Kartoffeln stehen nicht weit von seinen Hinterrädern. Modi, Modi! rufen ihm die zwei älteren Männer, heftig gegen sich winkend, von der Strassenmitte zu. Der kahle Schädel verschwindet und der Lada setzt sich rottelnd wieder in Gang. Die kleingewachsene Marktfrau mit dem dunklen aserbaidschanischen Gesicht wird von der alten Autobüchse samt ihrer weissen ausladenden Säcke langsam verdeckt. Mit einem Schlag auf die hintere Seite des Kofferraums gibt der eine der zwei Männer dem Fahrer zu verstehen, dass er genug ausgeholt habe um nun vorwärts auf die ungeteerte Strasse einzubiegen. Das flache helle Holzkreuz mit gerundeten Ecken schaukelt beim Richtungswechsel unter dem Rückspiegel wild hin und her. Die kleine Frau mit schwarzem langem Rock und abgetragenen staubigen Sandalen wird wieder sichtbar, ein junger vollbärtiger Mann gestikuliert mit ihr. Mit dem Kinn zeigt er schräg hinter sie. Oberhalb des weissen Kastenwagens schichten sich dunkle Wolken in die Höhe. Ein sternförmig blauer Schlitz hat sich darin aufgetan und wandert durch das Grau. Als er stehen bleibt, sind zwei weisse zerzauste Wolkentupfer zu sehen, die weit oben durch sein sonntägliches Blau treiben. 

Sicht über unser Hochtal unweit von Kaspi, Region Kartli, Georgien