Dashbash Canyon, südliches Zentralgeorgien, mit georgisch-orthodoxer Kapelle aus dem 10. Jh.
Zum Neuen Jahr wünschen sich die GeorgierInnen „mravals daeszarit!“ „Mögen noch viele Jahre kommen!“ Das typische traditionelle Lied fürs neue Jahr „Mravaljamieri“ kann ganz ähnlich übersetzt werden. Es singt der Chor Kartveli Khmebi – Georgische Stimmen, aus der Region Gurien
Von den Singfrauen Winterthur und den Singfrauen Berlin hörst Du „Lale“, ein georgisches Lied voller Lebensfreude. Solistinnen: Tamar Buadze und Karina Samuel
Vorgestern hatte ich Geburtstag, ich wurde 50. Ist es ein Tabu 50 zu werden? Es schien mir, frau darf es zwar werden – aber die Zahl – die muss gewaltig was im Gepäck haben, die spricht niemand aus. Auch geschrieben geht nicht. Ich bin einverstanden, die 50 ist komplex, aber es gibt für mich Nichts, das dazu nicht ausgesprochen werden könnte.
Richtig, ich verstehe nicht, was die Fältli in meinem Gesicht sollen. Völlig unnötig, für nichts zu gebrauchen. Dass ich extra zur Coiffeuse gehen muss um meinen Haaren zu zeigen, wie sie farblich spriessen sollten, find ich auch eher mühsam. Zumal sie überhaupt nicht intelligent sind. Mit der Zeit sollten sie doch verstanden haben, dass ihr Weissprogramm nicht gewünscht ist. Aber nicht die Spur von Selbstoptimierung. Vergiss nicht, dass ich in Georgien lebe. Graue Haare bei Frauen sind hier ein klares Indiz für Ungepflegtheit. Und die Schweizerin, die sowieso genug Geld hat! Da gibts kein Pardon. Wobei ich sagen muss, mit farbvollen Haaren fühle ich mich tatsächlich wohler als mit farbleeren.
Aber egal wie man äusserlich durch die Strassen geht, ich finde mit 50 hat man noch ganz andere Verantwortungen. Letzten Winter hab ich ein kleines Bild, das am Kamin meines Vaters hing, nach Georgien mitgenommen: Die Tessiner Berge, der See, und ein Boot. Das starke helle Blau, das in Himmel, Bergen und Wasser so präsent ist, könnte sprühender und lebendiger nicht sein. Das Boot jedoch wartet. Es wurde für mich zum Symbol für den Tod. Nicht nur mein Vater hat gehen müssen, auch mich wird das Boot eines Tages oder Nachts mitnehmen. Mit 50 sehe ich mich in der Verantwortung, meine mir noch verbleibende Lebenszeit adäquat zu gestalten. Mir und meinem Umfeld gerecht zu werden. Das braucht Mut, merke ich.
Mein Rezept geht so: Liebevolles Hinschauen und beharrliches Dranbleiben. An mir selber und es zulassen, keine Ahnung zu haben. Und genau der Ahnung folgen. Jeder Schritt wie ein Schritt aus dem Fenster. Einfach machen.
Zum Beispiel: Nach zwanzig Jahren wieder Farben kaufen. Pinsel und genug Papier. Kunstbücher aus dem Kasten holen. Auf der grossen weissen Fläche entsteht ein Vogel. Ein Falke, oder was am Ende des Prozesses auch immer Gültigkeit reklamiert. Interessant, wie sehr ich das Gefühl hatte, das hätte in meinem jetzigen Leben keinen Platz. Und wie einfach es dann war, mit Wacho alles zu besorgen. Wie mühelos ich dafür in unserer Wohnung einen Ort fand und wie leicht mir die ersten Bleistiftstriche fielen.
Und in was anderes bin ich kurzum reingestolpert. Französische Humorist*innen! Es ist ja ein Phänomen, dass ich mich in der Ferne, in Georgien, so wohl fühle in der französischen Sprache. Es ist wie heimkommen, aber eben nicht ganz. Eine wundersame Variante.
In den georgischen Medien dreht sich das Rad der Skandale unaufhörlich. Ohne dass etwas gelöst würde, ohne dass über weitere Entwicklungen berichtet würde. Schlag auf Schlag lösen sich die Skandale von Politik und Gesellschaft ab – neuerdings ist auch die Kirche mit von der Partie.
Als König Tamar Ende 12. Jh. als junge Frau (die männliche Bezeichnung „König“ ist den Georgier*innen in diesem Falle wichtig, sie soll verdeutlichen, dass Tamar die Landesverantwortung hatte) die Regierung Georgiens übernahm, kämmte sie als eine ihrer ersten Amtshandlungen die Reihen der Kirchenvertreter rigoros durch. Kirchenvertreter gehörten zu ihrem engsten Beraterkreis, sie brauchte gute Leute. Dass die Georgisch Orthodoxe Kirche in letzter Zeit selber schmutzige Wäsche wäscht, ist für mich Zeichen dafür, dass viel Personal an die frische Luft geschickt werden müsste. Auch auf Reisen, das würde den Horizont weiten.
Als Anfang November in Tiflis der Film „And Then We Danced“ (siehe mein Beitrag vom 11.6.19) ins Kino kam, war es für mich kaum zum Hinören und -sehen. Die Kinogänger*innen mussten von der Polizei gegen Demonstrierende geschützt werden. Hier ein Artikel dazu in der New York Times, vom 6.12.19.
Auf den Filmskandal kamen schlags die Behauptungen eines georgischen Bischofs, der die Kirche der Pädophilie und Homosexualität beschuldigte. Auch das georgische Kirchenoberhaupt, Patriarch Ilia der Zweite, bekam das Bild der Homosexualität aufgedrückt, das war die Krönung. Gefolgt von einem Skandal aus dem politischen Umfeld – und der nächste Skandal ist schon auf dem Absprung. Und nichts wird gelöst, nichts geklärt. Wenn alles und alle miteinander verklüngelt sind.
Es ist Zeit, Danke zu sagen. Unseren Gästen, die diese Saison so zahlreich kamen. Die uns vertrauten. Die mit uns, Georgien WB Tours, Georgien bereisten. In der dritten Saison ausgebuchte Touren zu haben, ist ein tolles Erlebnis. Für Wacho und mich waren es bewegte Monate: Er hatte Anfang Mai eine sehr heikle Krebsoperation (sie verlief erfolgreich) und konnte fast die ganze Saison nicht mit dabei sein – während ich ins kalte Wasser sprang und die Touren alleine leitete, mit toller Unterstützung unserer zwei Fahrer.
Die Erfahrung von Freundschaft und Verbundenheit sind für mich die schönsten Elemente auf unseren Reisen. Zusammen – in aller Verschiedenheit – neues Terrain entdecken, das fägt. Wie viel haben wir gelacht und genossen. Vertrauensvolle Gespräche geführt. All das nehme ich mit in die Wintermonate. Madloba didi.
Truso Hochtal, Juli 2019 Truso Hochtal, Sept 2019 (Foto von Reto Pauli)
Jetzt, erst jetzt, kommt zu uns das kühle Wetter. Im November hatten wir nochmals während zehn Tagen 20°C – die ich im Bett verbrachte. Wir waren auf Reko in Ostgeorgien für eine geplante Weintour, und ich kam mit einer Lungenentzündung zurück. Für Wacho und seine Familie bin ich punkto Krankheit nicht von dieser Welt. Ich war in meinem Schweizerleben dermassen wenig krank, dass ich damit einfach keine Erfahrung habe. Ich konnte nicht spüren, dass ich Lungenentzündung habe. Eine Erkältung und das geht vorbei, dachte ich. Für die Chvitschias bin ich dickköpfig. Wie kann man nicht zum Arzt gehen?! Sagten sie. Nun, dieses Jahr hab ich bereits meine zweite Antibiotikakur hinter mir. Und die Chvitschias hatten 2x recht.
Dabei wollte ich für Dich doch eine schöne Reportage über das Alasani-Wein-Tal machen. Hier eine Version, die meinem Gesundheitszustand gerecht wird, ok?
Telavi, Hauptstadt Ostgeorgiens, im Hintergrund das Gebirge des Grossen KaukasusTrauben (die berühmte Sorte Rkaziteli), Nüsse und Käse werden feil gebotenMarkt in Telavi, und ja, ich lebe noch„Baumforellen“ werden diese Pilze genannt, sie sind in der georgischen Küche sehr beliebt
Heute entdeckt, die Tochter von Inola Gurgulia (siehe mein Blogbeitrag vom 10.10.2019) singt in jungen Jahren ein Lied ihrer Mutter, Ra Kargi Char (Du bist gut). Ia Shugliashvili, so heisst die Tochter, ist Sängerin und spielte in der georgisch-deutschen Filmproduktion von 2017, Meine glückliche Familie, die Hauptrolle. Hier der Link zur Version von Inola, 70er Jahre
Ana Subeliani nimmts locker mit obigem Lied, 2018 in einem ArtBistro in Tiflis
Auch Manana Menabde hat den in Georgien seltenen Weg einer Songwriterin gewählt. Geboren 1948, besitzt sie heute Kultstatus. Stvens Bulbuli (Vogelzwitschern)
In Moskau singt sie das Gedicht Himmlische Farben vom georgischen Dichter Nikoloz Baratashvili (1817-1845), Boris Pasternak (1890-1960) übersetzte es auf Russisch, die Musik ist von ihr
Und hier beim Tischgelage (Supra) mit russischen Freundinnen. Love it
Khanchalisee (ausgesprochen: Chantschalisee) in der Nähe von Ninotsminda
Langsam pendelt die offizielle Reisesaison aus und es wird wieder möglich: Raus in die Natur auf Entdeckung! Südwestgeorgien, nah an der Grenze zur Türkei und Armenien, das vulkanische Hochplateau der Region Samtskhe-Javakheti. Nicht, dass diese Region ein unbeschriebenes Blatt für mich wäre, aber ich werde eine weitere Facette davon kennenlernen.
Frühmorgens hatten wir mit Maxim abgemacht, unserem Guide aus Patara Khanchali. Rund 3000 Einwohner*innen hat das Dorf, allesamt haben sie ihre Wurzeln in Armenien. Ihre Vorfahren wanderten 1921 in dieses Gebiet ein, als Folge des Genozids der Türken an den Armeniern in den Jahren 1915-17.
Dorfplatz von Patara Khanchali
Den Tiger Canyon hatten wir vor uns. Die Wanderung, die ich im Internet erspäht hatte, schon lange wollte ich diese realisieren. Mitte Oktober ist für dieses Gebiet höchste Eisenbahn, manchmal liegt zu dieser Zeit bereits Schnee. Wir hatten Glück, der diesjährige Oktober ist in ganz Georgien sehr mild.
Juni wars jedoch nicht mehr und Maxim wurde nicht müde zu betonen, wie viele Blumen es ab Ende Mai in dieser Gegend gäbe. Mich begeistern jedoch auch die Herbstfarben, ich liebe die Schattierungen zwischen Golden und Grau. Wir befinden uns in ehemaligem Vulkangebiet, das Samsri Gebirge mit seinen sanften Vulkankegeln ist ganz nah. Geologisch ist es eine junge Landschaft, max. 2,5 Mio Jahre alt soll das Mädchen sein. Nun, wir sind ganz schön ins Stolpern gekommen, als wir über und um die vielen Basaltsteinströme kurven mussten, die die Hänge bedecken.
Mhm, und dann war plötzlich Nebel. Die Sicht vom Grat war – weiss! 1 km vor der türkischen Grenze bliesen wir zum Rückzug. Das war nicht weiter schlimm, unsere Equipe (Wacho, Kote und ich) hatten die Wandersituation verstanden. Es ist interessant, dass im Kaukasus die Menschen keinen Unterschied machen zwischen einem Hochtal und einer Schlucht. In Georgien ist alles eine Kheoba (Schlucht). So war also der Tiger Canyon in Realität längst nicht so gfürchig wie vorgestellt. Der Entdeckerfreude tat es keinen grossen Abbruch, ist nun mal die Realität das Wichtigste, um an künftigen Touren für unsere Gäste weiterbauen zu können.
Hab ich das schon gesagt? Dieses Gebiet ist ein Kartoffelparadies! Auf 2000 m Höhe kann man nicht mehr viel anbauen, aber die Kartoffel gedeiht in der Schwarzerde von Samtskhe-Javakheti bestens. Maxim trägt einen Sack Kartoffeln vom Feld seiner Familie weg
Ein Traktor bringt die kostbaren Erdäpfel ans Tageslicht, zusammengelesen werden sie von den Frauen. Tonnenweise.
Das ist nicht von heute. Inola Gurgulia hat es 1977 aufgenommen, kurz bevor sie 48-jährig in Tbilisi verstarb. Selten, zu dieser Zeit, die Fragilität ihrer Lieder
Auch Gaelle Senn ist früh verstorben, allerdings nur medial. Ihre Interpretation von Le Coup de Soleil von Richard Cocciante berührt mich sehr. Sie wurde zum Final der fragwürdigen stargebärenden oder stimmenverschleissenden Sendung zugelassen, verweigerte sich dann jedoch.
Ich wollte gleich weiterzappen, als ich die zwei zum ersten Mal hörte. Dies getan, liess mich irgendwas nochmals zurück gehen. Nochmals hinhören. Genau schauen. Ein Kunstprodukt, die Brigitte. Sie treffen einen Nerv, oder mehrere. Wie raffiniert sie das Lied Ma Benz von NTM neu erfinden, sich damit amüsieren, es Brigitte minutiös auf den Körper weben
Parallelwelt. Ich erinnerte mich im vergangenen Sommer an meine Jugend und wie sehr ich es damals brauchte, mir Parallelwelten zu kreieren, diese zu kultivieren. Das waren damals starke Momente, Höhepunkte, die in der Erinnerung dominieren. Die Musik ist momentan mein Boot. Ich navigiere mit ihr, lass mich treiben, von Wellen verschlucken und lege immer wieder an um auszusteigen.
Dorthin, wo man Autos wie Vögel hält und nach dem Geldwechseln ein kostbares Glas Roten mit feinstem Emmentaler geniesst.
Unser neues Zuhause. Achtstöckig, solider Sowjetbau, Anfang 80er. Vorbei der Autolärm. Jetzt spüre ich, dass in Tbilisi wirklich viele Menschen wohnen. Und ganz viele davon ganz nah bei mir!
In Dolidze, einem ruhigen Wohnquartier sind wir gelandet, völlig unverhofft und verblüfft. Eine grosse Wohnung haben wir bekommen, wie zugeteilt damals in den 80ern, so schnell ging das. Hier schaut man kurz in alle Zimmer und sagt dann Ja oder Nein. Bekommt zwei Wochen später den Schlüssel, um dann festzustellen, dass die Wohnung überhaupt nicht geputzt ist wie versprochen, und Begebenheiten zur Wohnung gehören, die man damals nicht wahrgenommen hat. Naivlinge, haben wir uns geschimpft. Anfänger, und die Nachbarin, die uns die Wohnung vermietet hat, bekam auch einiges ab.
Mittlerweile haben wir alles geputzt, das Meiste versorgt, und geniessen den wunderbaren Raum. Es fiel mir diesmal nicht so leicht, wieder eine möblierte Wohnung zu beziehen. Und die Farben der Häuser waren auch gewöhnungsbedürftig. Aber verspielt ist dieses Quartier. 150 m weiter oben bist du auf dem Hügelkamm vom Bachtrioni Quartier, dieses treibt unter anderem solche Blüten:
Du möchtest Wacho und mich besuchen? Drücke links den Knopf, wirf 5 oder 10 Tetri (Rappen) ins Liftkässeli und wähle Stock Nr 6. Wir servieren weissen Qvevriwein mit Guda (rassiger Schafskäse)