Gegen Abend

Oberhalb vom Dorf Ertatsminda schau ich in die Bergzüge des Grossen Kaukasus. Zumindest auf die vorderen Reihen, denn im Sommer liegen die hinteren, die mit den weissen Spitzen, meist im Dunst. Die Sommerwiese um mich herum duftet nach Violett, gelb werdendem Gras, reflektiertem Sonnenschein und dem Esel, der mitten im Feld steht. Schon hat er mich gesehen, dreht sich um, schnaubt und wiehert dieses Eselswiehern, das mich jedesmal verblüfft, es ist so hell und offen, und manchmal ist es menschenähnlich. Redet er mit mir? Die Antwort kommt von oben, Richtung Friedhof, hinter den Bäumen. Ich war also nicht gemeint.

Die Blumen verblühen bereits, ich befinde mich jetzt auf einer kleinen Wiese am Hang, bevor weiter oben die Bäume kommen. Sie ist voller Ringelblumen. Welch ein Glück, ich hab noch fast keine nach Hause genommen zum Trocknen, für Tee. Ich frage die Blumen ob ich darf, und nach einem gefühlten „Ja“ breche ich einigen den oberen Drittel ab. Ehrlich, wenn ich „Nein“ spüre, was vorkommt, dann lass ich es.

Ein Tierpfad führt mich unter den kleinen buschartigen kaukasischen Buchen hinauf auf eine Ebene. Schmale Maisfelder und geschnittene Grasflächen wechseln sich, gegen Norden schauend, ab. Ich stehe vor die Sonne und werde sichtbar

Hier ging der Weg runter zurück zum Dorf, oder besser gesagt, dessen Abkürzung. Ich dachte, das Foto mit den blau blühenden Blumen und Disteln im schattigen Vordergrund, und dem dahinter vom Abendlicht gelb leuchtenden Gras, würde nichts, aber die Mobilekamera hats automatisch ausgeglichen

Als ich fast unten bin, höre ich von oben Rufe. Ich blicke zurück und sehe viele Kühe, die auf unterschiedlichen Pfaden runter kommen. Erst bemerke ich keine Hunde, dann seh ich doch zwei. Ich befinde, dass ich vorwärts gehen sollte, nicht dass sie mich noch in den Hosenboden beissen. Die Strasse ins Dorf ist seit Neustem geteert. Ich spaziere also in der Mitte der schwarzen Bahn, dicht gefolgt vom Geräusch zockelnder Kühe und Hirtenrufen. Vorne, beim Dorfeingang, warten am Strassenrand Kinder auf der einen Seite, und auf der anderen, auf einem langen Steinblock sitzend, drei Frauen unterschiedlichen Alters. Alle schauen in meine Richtung. Bestimmt fragen sie sich, was ich mit den Kühen zu tun hätte. Spazieren, einfach zum Spazieren, ist in Georgien nämlich ziemlich unbekannt. Nun, vielleicht bin ich die neue Haupthirtin? Oder ich bringe eigene Kühe zurück, bin neu im Dorf? Ich bleibe bei ihnen an der Kreuzung stehen, und lasse die halb rennenden Kühe und Rinder vorbei, auch drei Büffel sind darunter. Im Hintergrund scheppert eine Strohpressmaschine. Ein neues Modell. Es ist stationär, schaufelt mit zwei nach oben herausragenden Armen das Stroh in sich hinein, das ihm der Mann mit der Gabel vor die Füsse wirft. Hinten kommt ganz langsam die Balle raus. Wie eine Geburt, Zentimeter für Zentimeter.

Und dann steh ich allein auf der Strasse. Geh ihr entlang, und da steht doch noch eine. Braun, mit einem dicken Bauch. Sie steht quer auf der Strasse und schaut mich an. Was soll ich sagen? Sie dreht sich um und geht vor mir. Sie ist chic. Hinter dem breiten runden Bauch endet oben spitz die Wirbelsäule, rechts und links davon spannt sich die Haut über die eher schmalen Hüftknochen. Ihr Hinterteil mit Schwanz zeichnet eine schmale Silhouette, die unten, bei den Klauen, in weicher Linie endet. Fehlt nur noch das Gucci-Täschchen. Das einigermassen volle Euter, oder vielleicht ist es voll, aber viel weniger prall als die Kuheuter in der Schweiz, schwingt neckisch vor den Oberschenkeln. Plötzlich biegt sie ab und ist nicht mehr da. Als ich zur Mauerecke komme, sehe ich, dass ein Fussweg zu einem Innenhof führt. Die braune Eisentür ist halb offen.

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