Zu welchem Volk gehörst Du?

Für Europäer hat die Zivilisation in Griechenland begonnen. Die Georgier aber wissen, dass die Griechen, das Volk der Argonauten, nach Georgien (Kolchis) kam, um sich Wissen u.a. über Ackerbau, Viehzucht und Kunsthandwerk anzueignen. Dies erzählt die griechische Sage Die Argonauten und das goldene Vlies. Die griechische Sagenwelt erzählt auch, dass Prometheus im Grossen Kaukasus an den Felsen gekettet wurde. Und genau dieser Prometheus, der bei den Göttern das Feuer stahl, um es den Menschen zu bringen, wird dafür verantwortlich gemacht, dass die Kolchis als sehr reiches und entwickeltes Land galt. Denn für was sollte das Feuer stehen, wenn nicht für Wissen und Entwicklung?

Nun, dieser (mögliche) Vorlauf der griechischen Zivilisation war mir überhaupt nicht bewusst. Hier in Georgien ist er aber sehr bewusst. Es gehört zum Selbstverständnis des georgischen Volkes, sich als wichtiges Element der europäischen Entwicklungsgeschichte zu sehen. Ich komme auf dieses Thema, weil sich kürzlich ein Treffen so fügte, dass eine Georgierin, eine Georgierin mit griechischen Wurzeln und ich an einem Tisch sassen. Wir diskutierten die wortsichere (und emotionale) Rhetorik der GeorgierInnen, die mir täglich auffällt, wenn ich Diskussionsrunden schaue, Interviews verfolge mit Menschen von der Strasse, oder an meine SchülerInnen denke, die auch in fremder Sprache sehr schnell sicher formulieren. Man kann sich nicht vorstellen, dass GeorgierInnen in einen Rhetorik-Club gehen würden wie ich das in Zürich machte, um sich ein sicheres Gefühl anzueignen im Reden vor Publikum.

Es gäbe zu diesem Thema noch viel zu sagen. Zum Beispiel, dass ich mich hier als Schweizerin auf die Vergangenheit meiner eigenen Nation zurückgeworfen fühle. Welche Entwicklungen haben wir durchlaufen und was sind/waren wir für ein Volk? Ganz gewiss ein ganz anderes als das Georgische. Ich weiss, dass ich hier schon einiges gelernt habe. Zum Beispiel, die Brust rauszustrecken und gerade und fest auf dem Boden zu stehen. Nicht weichen. Sonst fegt es dich weg.
Und ich kenne einen Club, der den GeorgierInnen sehr gut stehen würde: Ein Zuhör-Club. Dort würde das Zuhören geübt und die Fähigkeit, dem Gegenüber Wichtigkeit zuzugestehen.
Dann gäbe es mit der Zeit vielleicht weniger von diesen georgischen Radio- und Fernsehsendungen, in denen alle reden und niemand zuhört.

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